Unser Sohn wurde 2012 mit einer sehr seltenen, noch nicht erforschten, unbekannten Skeletterkrankung (Kleinwuchs) geboren. Nach der Geburt hatte unser Sohn eine Zeit lang immer wieder Atemaussetzer, die zu langen Krankenhausaufenthalten führten.
Er war als Baby sehr klein und hatte veränderte Körperproportionen, wie es bei kleinwüchsigen Menschen meistens vorkommt; was immer wieder zu erstaunten Blicken und Bemerkungen führte.
Damals war uns noch nicht ganz bewusst, was noch alles auf uns zukommen würde. Wir liebten unseren Sohn genauso wie er war – und waren zu diesem Zeitpunkt eigentlich nur froh, dass er überlebt hatte. Eine endgültige ärztliche Diagnose gab es aber noch keine.
Mit zwei Jahren wurde unser Sohn in einen städtischen Kindergarten eingeschrieben. Wir konnten dort nur vorsprechen und erklären, dass wir nicht wissen, welche Erkrankung er hat, er sich aber momentan ganz normal entwickelt, was auch durch laufende entwicklungsdiagnostische Untersuchungen bestätigt wurde. Allerdings gab es dort anfänglich auch Unsicherheiten und Erklärungsbedarf. Wir konnten diese aber durch Gespräche ausräumen. Ständige Kontrolluntersuchungen und Therapien waren auch damals schon unsere Begleiter.
Er fügte sich gut in den Kindergartenalltag ein und hatte auch trotz seiner Behinderung schnell Freunde gefunden – seine herzliche, offene Art und sein liebes Wesen halfen ihm dabei. Von den Gleichaltrigen wurde er so angenommen wie er war.
Auch zum Schuleintritt gab es noch keine Diagnose und keinen sicheren Hinweis, wie sich unser Kind entwickeln würde. Es wurde uns daher nach Gesprächen mit Ärzten und nach Rücksprache mit dem Direktor des SPZ 14 (Sonderpädagogisches Zentrum, 14. Bezirk) empfohlen, ihn in eine Integrationsmehrstufenklasse (OVS, Zennerstraße) als Integrationskind (mit einem regulären Lehrplan) einzuschulen.
Der erste Schultag stand vor der Tür – und wieder hatte ich als Mutter große Sorge, wie der Umstieg wohl sein wird, werden wir uns wieder rechtfertigen müssen, wird es wieder fragende Blicke geben – weil unser Sohn anders aussieht als gesunde Kinder – wird die Behinderung wieder zum Thema?
Aus heutiger Sicht war es die einzig richtige Entscheidung ihn in diese Klasse einzuschulen– eine andere Schulform würde ihm so nicht gerecht werden, wie nachstehend ausgeführt wird:
1. Unser Kind wurde, aufgrund einer leichten Entwicklungsverzögerung als Vorschulkind rückgestuft, und wird jetzt die zweite Klasse nicht zuletzt aufgrund des fast verlorenen Corona-Jahres wiederholen. Er hat durch die Mehrstufigkeit aber keinen Wechsel von Lehrer*innen oder Mitschüler*innen und kann im Rahmen seiner Möglichkeiten in Deutsch auf die dritte Klasse vorbereitet und in Mathematik die zweite Klasse noch einmal vertiefen. Sonst gibt es dann nur noch den Lehrplan für sonderpädagogischen Förderbedarf. In einer Integrations-Regelklasse hätte er jetzt bereits den vielleicht dritten Lehrer*innenwechsel – eine zusätzliche Bürde.
2. Er wächst sehr langsam, er wird immer der Kleinste in der Klasse sein. Durch das Konzept der Mehrstufigkeit kommen aber immer neue Erstklässler nach, die durch Patenschaften von den älteren Kindern betreut werden. Dadurch wird das Selbstbewusstsein von körperlich behinderten Kindern gestärkt und ein wichtiger Grundstein gelegt, im Erwachsenenalter mit der Behinderung umgehen und leben zu können. Die Selbstverständlichkeit, wie Kinder in dieser Klasse mit seiner Körpergröße umgehen und ihn so annehmen wie er ist, ist der Beweis für echte Inklusion.
3. Jedes Kind in dieser Klasse hat seinen Platz. Die Kinder ohne Behinderung lernen mit Kindern mit Behinderung, jedes Kind ist gefordert und wird gefördert, individuell nach seinen Möglichkeiten. Auch sehr begabte Kinder können eine Schulstufe überspringen. Die soziale Komponente, wie die Kinder miteinander umgehen ist einzigartig und wertvoll. Das kommt auch den Mitschüler*innen mit Migrationshintergrund sehr zugute.
4. Entwicklungsunterschiede von Integrationskindern werden in Integrations-MSKs durch die Mehrstufigkeit ausgeglichen, während in Integrations-Regelklassen die Unterschiede mit den fortschreitenden Schuljahren (1.-4. Klasse) immer größer werden. In Integrations-Regelklassen wird ab der 3./4. Klasse der Unterschied mitunter so groß, dass sich Integrationskinder mehr zurückziehen und ein Nebeneinander, statt ein Miteinander stattfindet. In Integrations-MSK können auch ältere Integrationskinder Verantwortung für jüngere Kinder, etwa als erfahrener Buddy, übernehmen. Alle älteren Kinder werden so zu wichtigen Auskunftspersonen für jüngere. Das bereitet auf eine vielfältige Welt vor, in der sich Personen auf Augenhöhe begegnen und jeder Mensch wertvoll ist und die Erfahrung macht, einen Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten. Das ist gelebte Diversität und Inklusion, wie sie noch in viel mehr Schulen in Wien gelebt werden sollte.
Meine Sorgen als Mutter waren vollkommen unbegründet. Es gab seit Schuleintritt keine einzige Frage zur Größe, zum „anders sein“ von unserem Sohn, weder von Eltern noch von Lehrer*innen. Endlich müssen wir uns für die Behinderung unseres Kindes nicht mehr erklären und rechtfertigen.
Die Normalität, wie mit diesem Thema von Seiten der Lehrer*innen, Mitschüler*innen und Eltern der Mitschüler*innen umgegangen wird ist einzigartig und großartig.
Ich bin als Mutter unendlich dankbar, ihn in dieser Umgebung aufwachsen zu sehen. Nicht zuletzt auch dafür, dass die Lehrer*innen es trotz der Lernschwierigkeiten geschafft haben, ihm die Neugierde und die Freude am Lernen nicht zu nehmen.
Mittlerweile kennt man den Grund für die seltene Erkrankung unseres Sohnes, wie sich diese aber weiterhin auf seine Gesundheit oder sein Leben auswirken wird, ist nicht absehbar. Deshalb bleiben unserem Kind die aufwändigen regelmäßigen ärztlichen Kontrollen wohl noch länger erhalten. Doch wenigstens schulisch brauchten wir uns keine Sorgen mehr zu machen – es wird gemeinsam mit Lehrer*innen, uns Eltern und Ärzt*innen bzw.Therapeut*innen alles getan, ihn gut durch die Volksschulzeit zu bringen.
Deshalb war es für uns als Familie sehr beunruhigend und auch befremdlich, als wir am 17. Juni 2021 von der Bildungsreform der Neos erfahren haben. Die Integrationsmehrstufenklassen in unserer Volksschule hätten wegen der Stundenkürzungen aufgelöst werden müssen, weil die zusätzlichen Teamlehrer*innen wegen der Umschichtungen nicht mehr finanziert worden wären. Darin sehen wir eine Verletzung der Menschen- und Kinderrechte, weil eine Chancengleichheit dadurch nicht mehr gegeben wäre.
Auch wenn jetzt durch unseren lauten „Bildungsaufschrei“ Ende Juni (Demonstration 28. Juni 2021) unsere Klasse bestehen bleiben kann, wissen wir nicht, wie es in den nächsten Jahren weitergehen wird. Jetzt gibt es zusätzlich zu allen „gesundheitlichen“ Unsicherheiten für uns Eltern auch noch die Sorge wie es mit der Schule weitergehen wird.
Die besorgten Eltern eines Integrationskindes in einer Mehrstufenklasse