In diesem Sommer nahm ich am internationalen Kongress der Freinet-Pädagogik in Marokko teil, in unseren Ateliers und Gesprächen war die Inklusion ein großes Thema:
Ich erzählte von unserem Schulalltag in der integrativen Mehrstufenklasse, das fanden viele Pädagog:innen sehr interessant.
Die Unterschiede weltweit sind groß: In Marokko „dürfen“ seit 2019 Kinder „with special needs“ auch in die Schule gehen, allerdings müssen die Eltern das zusätzliche Personal bezahlen, somit können sich Schule für ihre Kinder mit speziellen Bedürfnissen nur die Reichen leisten. Trotzdem sind fortschrittliche Pädagog:innen froh, dass es diese Möglichkeit endlich gibt und die neue Unterrichtsministerin dies durchsetzen konnte.
Aber wollen wir Wien mit Marokko vergleichen?
Eine Pädagogin aus Italien erzählte, dass in Italien vor 40 (!!) Jahren die Sonderschulen abgeschafft und die Kinder in den normalen Schulen aufgenommen wurden. Nach 40 Jahren Integration/Inklusion in Italien – so die Erzählung von Lucia – haben beinahe alle Menschen, die heute unter 46 sind, in ihrer Schulzeit Kontakt mit Menschen „with special needs“. Da wäre sogar ich schon in eine Integrationsklasse gegangen und hätte von Kindesbeinen an Inklusion/ Integration lernen können, anstatt direkt im Beruf und am zweiten Bildungsweg. In diesen 40 Jahre, so die Erzählungen der Italiener:innen, veränderte sich die Gesellschaft; der Umgang mit Menschen, die sich anders verhalten, sei normal.
Der Sommer war noch nicht vorbei und ich fuhr auch noch nach Italien. In einem kleinen Ort in Emilia-Romagna beim „caffe nero“ in einer Bar in einem Park an einem lauen Sommerabend konnte ich diese veränderte Gesellschaft beobachten: eine Frau, Anfang 20, offensichtlich mit einer Behinderung ging aufgeregt auf und ab, blieb immer wieder stehen, schaute sich um, ging wieder zurück. Das ganze ging wohl ca. eine halbe Stunde lang. Die Menschen rundherum machten weiter, was sie eben gerade taten: die Kinder spielten am Spielplatz, andere tranken oder aßen etwas, wieder andere spazierten vorbei. Niemanden beunruhigte die Frau und ihr Verhalten.
Bei uns in Österreich wäre schon längst jemand gekommen, um „sich zu kümmern“, sie „nach Hause zu bringen“, vielleicht hätten auch jemand die Polizei verständigt.
Nach einer gefühlten halben Stunde ging die Frau mit 2 älteren Erwachsenen weiter, vermutlich ihre Eltern, die soeben auch noch in Ruhe in der Abendsonne einen Kaffee getrunken hatten.
Bleibt die Frage, wie es mit der Inklusion und Integration in Österreich, speziell in Wien, weitergehen soll. Wir hatten schon ganz passable Ansätze, aber „Reformen“ und andere neoliberale Einsparungen vernichten bereits erworbene Erfahrungen. Wir haben einen Inspektor, der als Inspektor für Inklusion betitelt wird; viele seiner Vorgaben und Aktionen zeigen ein anderes Bild.
Schade, dass ein reiches Land wie Österreich es nicht schafft, echte Inklusion (mit ausreichend Schulplätzen und unterstützendem Personal!) einzuführen und somit gesellschaftspolitisch etwas zu verändern. Am Schulanfang 2022 konnten wir in meiner Klasse beobachten, wie sehr Integration gelingen kann, wenn die nötigen Ressourcen (Pädagog:innen) an den Schulen vor Ort sind. Wir hatten die ersten 2 Wochen am Morgen eine zusätzliche Lehrerin, um ein Kind einzugewöhnen. Es ist uns zusammen gut gelungen, das Kind kommt jetzt gerne in die Schule.
Wenn Integration und Inklusion bei unseren südlichen Nachbarn möglich ist, was spricht eigentlich bei uns in Wien dagegen?
Eva Neureiter, MSKi, 1140 Wien
seit über 25 Jahren in Integrationsklassen in Wien tätig